Kein Strom, kein fließendes Wasser, keine Heizung - ein Besuch im Rehburger Wald
Weniger Luxus kann man sich in einem norddeutschen Kindergarten nicht vorstellen. Kein Strom. Kein fließendes Wasser. Keine befestigten Wege. Keine Heizung. Keine Toilette mit Wasserspülung oder Kanalanschluss. Keine Küche. Aber: auch keine unglücklichen Kinder, die den Eindruck vermitteln, als fehle ihnen irgendeine Art von Komfort.
Der Rehburger Waldkindergarten befindet sich nicht etwa in tiefstem Forst fernab jeglicher Zivilisation, sondern in direkter Nachbarschaft zu den modernen Gemäuern der Heimvolkshochschule Loccum, alle technischen Errungenschaften und Entwicklungen der Neuzeit wären also auch wenige Meter weiter denkbar im Waldkindergarten. Doch das Konzept der Kindertagesstätte sieht schlichtweg ein anderes Prinzip vor: Kinderbetreuung im Einklang mit der Natur, im Einklang mit den Jahreszeiten, unabhängig von Sonnenschein, Nieselregen oder Schneefall.
Mitte Februar, kurz vor neun, weitgehend trockene sechs Grad Außentemperaturen. Die 13 Kinder des Waldkindergartens (eigentlich sind es 15) haben die erste Stunde hinter sich, haben geschaukelt, gebuddelt, getobt, geklönt, gekickt, gebaut, auch mal gezankt, aber viel lieber geschmaddert. Das setzt adäquate Kleidung voraus: Buddelhose, besser Buddelanzug, Gummistiefel, Mütze. Denn neben Strom und Komfort gibt es im Rehburger Waldkindergarten noch etwas nicht: saubere Kinder. „Manche Eltern ziehen ihre Kinder beim Abholen im Kofferraum um, andere packen sie für die Fahrt in große Müllsäcke“, lacht Erzieherin Katja Brümmer.
Das Leben in der Rehburger Kita findet nahezu durchweg auf einer Freifläche und dem benachbarten Wald im Bereich Hormannshausen statt, der Golfplatz ist nur drei Steinwürfe entfernt. Auf einer stattlichen Fläche – gut ein halber Fußballplatz – gibt es reichlich Geräte, Kletter-Konstruktionen, Stationen und Bereiche, die die Kinder umfassend fordern: motorisch, geistig, sozial. Gut besucht ist per se die große Sandkiste, Mika und Max schaukeln am anderen Ende des Geländes fröhlich zwischen zwei Bäumen, Hannes wurde gerade erklärt, dass er in luftiger Höhe nicht am Karabinerhaken der Strickleiter zu friemeln habe; gar nicht so einfach, den Entdeckerdrang in Einklang mit Sicherheitsregeln zu bringen.
Der jeweils aktuellen Wetterlage wird keine allzu große Bedeutung beigemessen. Im Sommer, klar, muss man sich in Waldnähe mit Mücken auseinandersetzen. Im Winter aktiviert schon allein der Bewegungstrieb die körpereigene Heizung. Kaum ein Kind trägt Handschuhe. Und obgleich Wasserkontakt bei sechs Grad Umgebungstemperatur stets mit Vorsicht zu genießen sein sollte, ist die Schlange lang am Wasserschlauch, um Eimer und Gießkannen zu befüllen und diese per Bollerwagen zur Baustelle in der Sandkiste zu befördern. Apropos Wasser: Eine Leitung gibt’s nicht, es wird täglich in speziellen Behältnissen herangeschafft. Schließlich gelten auch im Wald Hygienestandards, natürlich werden vor dem Frühstück die Hände gewaschen.
Für fehlende Dinge, die das Leben komfortabler machen, haben Leiterin Claudia Ebeling und ihre Kolleginnen Katja Brümmer und Yvonne Hindriks praktikable Lösungen gefunden. Bei ganz widrigen Bedingungen kommt die Gruppe unter im Loccumer Jugendzentrum. Bei Schauern gibt‘s eine größere Überdachung seitlich am Bauwagen. Der Bauwagen selbst verfügt seit einiger Zeit über einen Ofen, gespendet vom örtlichen Supermarkt, der für heimelige Wärme sorgt, falls doch mal ein Kind über Frostfinger klagt.
„Wenn es regnet, dann regnet's“
„Minusgrade sind nicht gleich Minusgrade“, sagt Claudia Ebeling. „Wenn es zu kalt ist, gehen wir nach Loccum oder in die Köhlerhüte nach Rehburg.“ Grundsätzlich aber sind die Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren nicht zimperlich. „Wenn es regnet, dann regnet's. Dann holen sie sich meistens noch Wasser dazu. Die Temperatur spürt man eigentlich nur, wenn man eine Weile gesessen hat.“ Und sollte der Wind gar biestig ums Eck pfeifen, dann verzieht sich die Gruppe schon mal in den urigen Bauwagen. Zumindest für zehn Minuten oder so. „Wir sind hier nicht wetterfühlig“, betont Katja Brümmer. „Schlimm sind eigentlich nur Schneeregen oder Niesel bei zwei Grad, das geht irgendwann überall durch.“
Einfach nur rumsitzen, das kommt nur selten vor im Laufe des Vormittags, zum Beispiel beim gemeinsamen Frühstück. Das ist von besonders romantischem Charakter: Täglich bestimmen die Kinder einen Feuerverantwortlichen oder eine Feuerverantwortliche. Gemeinsam mit zwei Handlangern werden aus dem großen Stapel Holzscheite herangeschafft. Die hat übrigens zuvor ein engagierter Papa gesägt und gespalten. Wenn das Feuer in der großen Schale dann brennt, setzt sich die Frühstücksrunde wie im Zeltlager ums knisternde Lagerfeuer. Die Kinder mampfen, Katja liest eine Geschichte vor. Ebeling: „Im Sommer hilft das Feuer auch gegen die Mücken.“
Die Leiterin erinnert sich an die Schneemassen des vergangenen Jahres. Damals kein Grund, um zu flüchten, im Gegenteil. „Das war richtig cool, da haben wir ein Iglu gebaut, die Kinder sind mit Poporutschen den kleinen Hügel runtergerutscht. Schnee macht hier einfach Spaß.“
Die Toilette des Waldkindergartens beruht auf einem Prinzip aus der Zeit unserer Urgroßeltern: Das Geschäft wird bedeckt mit Pellets, die wiederum die Duftentwicklung minimieren. In regelmäßigen Abständen werden die Klo-Behältnisse geleert, kompostiert und schlussendlich wieder der Natur zugeführt.
Der Alltag an der frischen Luft tut den Kindern ganz offensichtlich gut. „Wir sind auch mal krank, aber anders“, sagt Ebeling. „Wenn hier draußen mal eine Nase läuft, ist das nicht so schlimm wie eine verstopfte Nase drinnen bei Heizungsluft.“
Die Erzieherinnen achten genau auf ihre Kinder, auch das Gesundheitsamt des Landkreises fragt einmal wöchentlich die Befindlichkeiten ab. „Die Situation hier ist deutlich besser als in vielen anderen Einrichtungen. Der Alltag an der frischen Luft trägt zur Robustheit bei.“ Claudia Ebeling habe Rückmeldungen von Eltern bekommen, dass ehemalige Kindergartenkinder erst in der Grundschule wieder anfälliger wurden, beispielsweise für Erkältungskrankheiten.
Eine Mittagsmahlzeit bietet der Waldkindergarten nicht an, das wäre logistisch zu kompliziert. Was nicht heißt, das in loser Folge nicht auch mal gekocht wird. Milchreis oder Suppe im Topf über dem Lagerfeuer – kein Problem. „Wir haben auch einen Dutch Oven“, erzählt Katja Brümmer. „Darin haben wir sogar schon Kuchen gebacken.“
(Text und Fotos: Stefan Schwiersch, DIE HARKE vom 22. Februar 2022 / Abdruck mit freundlicher Genehmigung)